Unser Land |
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Die
Gier der Patrioten
Alle spielen jetzt
für Deutschland, nur nicht die Konzerne. Zeit für rote Karten!
SZ v. 1.Juli 2006
von Christian Nürnberger
Als ich sieben war,
sah ich meinen Vater zum ersten Mal in meinem Leben weinen. Ich saß
damals in einem Kreis von vielleicht zwei Dutzend erwachsenen Männern
im Wohnzimmer des Dorf-Friseurs. Im Sommer 1958 zählte er zu den ganz
Wenigen im Dorf, die schon einen Fernseher hatten. Davor versammelten sich
die Männer, um das Spiel der Deutschen im Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft
in Göteborg zu sehen. Wir verloren 1:3 gegen Schweden, schieden aus,
und da habe ich bei meinem Vater die Tränen gesehen.
In diesen Tagen,
da ich mit Ehefrau und 13-jährigem Sohn die WM im Fernsehen verfolge
- die 16-jährige Tochter zieht es vor, das Ereignis mit ihrer Clique
beim Public Viewing zu genießen - erwachen die Erinnerungen daran und
mit ihnen die Fragen: Wie entsteht eigentlich Patriotismus? Unter welchen
Umständen wächst Heimatliebe, woraus speist sich Zusammengehörigkeitsgefühl,
und wie funktioniert das alles im deutschen Sonderfall, mit dieser besonderen
Geschichte?
Der Versuch, solche
Fragen zu beantworten, ergäbe ein hübsches Forschungsprojekt, und
natürlich führte kein Weg an der These vorbei: Der Fußball
macht‘s.
Das wilde Geschrei
der sonst vernünftigen Arbeiter, Bauern und Handwerker im Wohnzimmer
des Friseurs, der Jubel und das Stöhnen, und zuletzt die Tränen
des eigenen Vaters, das alles war nötig, um in dem siebenjährigen
Jungen etwas zum Keimen zubringen, was mit dem geschundenen Wort „Patriotismus“
gemeint ist: der Glaube an die Existenz eines gemein-samen Dritten, das dich
mit den anderen verbindet. This land is your land, this land is my land,...
auf Deutsch: Einigkeit und Recht und Freiheit.
Ob das bei meinen
Kindern auch noch funktioniert? Ich habe das Gefühl, dass diese Weltmeisterschaft
für sie und vielleicht deren ganze Generation zur rechten Zeit kommt,
denn wir politisch korrekten Eltern haben ihnen - was unser Land betrifft
- nichts erspart. Jeden Kinofllm über Hitler, jede Fernsehdokumentation
mussten sie mit uns ansehen. Erst vor kurzem zeigten wir ihnen auf DVD „Das
Leben ist schön“, jenen von manchen als verharmlosend gescholtenen Film
mit Roberto Benigni, in dem dieser als italienischer Jude von den Deutschen
mit seinem fünfjährigen Sohn in ein KZ gebracht wird und dem Kind
dort unermüdlich vorgaukelt, es handle sich um ein Spiel, bei dem es
am Ende einen Panzer zu gewinnen gebe. Bei diesem Film sahen meine Kinder
ihren Vater zum ersten Mal weinen.
Darum verstehe ich
die Begeisterung meiner Tochter über das Leben in den Fanmeilen. Dort
trifft sie auf junge Engländer, Schweden, Holländer, Franzosen,
die ihr nicht die deutsche Vergangenheit vorhalten, sondern mit ihr eine
Party feiern wollen, und dieses gemeinsame Feiern ist den meisten unter ihnen
wichtiger als die Frage, wer Weltmeister wird. Meine Kinder sind euphorisiert,
ich bin es auch, und teile mit Millionen anderen die Freude über dieses
gelungene Fußballfest.
Mitten ins Fest
platzt die Nachricht, die Allianz werde 7500 Mitarbeiter entlassen, und ich
frage mich: Warum soll ein entlassener Allianz-Mitarbeiter
patriotische Gefühle entwickeln? Was hat er mit den Vorständen
gemein, die ihn auf die Straße gesetzt haben?
Teilt der Gefeuerte
nicht viel mehr Gemeinsamkeiten mit jenen ausländischen Bank- und Versicherungsangestellten,
die sich künftig ebenfalls mit weniger bescheiden müssen, damit
es den Milliardären dieser Welt wieder ein bisschen besser ergehe und
die Rest-Arbeitsplatzbesitzer das sowieso nicht mehr so beruhigende Gefühl,
von der Allianz versichert zu sein, ein paar Euro weniger kostet?
Ich fühle mich
von solchen Fragen jetzt gestört. Zum ersten Mal seit der Europameister-Mannschaft
von 1972 haben wir wieder ein Dream-Team, das auch im Ausland begeistert.
Endlich mal von Italienern und Franzosen so geliebt werden, wie wir sie lieben
- ob sich diese heimliche Sehnsucht jetzt erfüllt? Viele Kommentare
in ausländischen Zeitungen deuten es an. Davor verblasst im Augenblick
das Schicksal der Allianz-Mitarbeiter, und wider alle Vernunft schwebt durchs
ganze Land so eine Hoffnung, geboren aus einer geheimen Beziehung zwischen
dem Land und seiner Mannschaft, dass man selbst im Fall einer Niederlage geneigt
ist zu glauben, die Erneuerung des deutschen Fußballs und diese friedlich-freundlichen,
wirklich völkerverbindenden Festwochen könnten zur Initialzündung
für die Erneuerung des ganzen Landes werden und alle Probleme, einschließlich
derer der Allianz-Mitarbeiter, einer Lösung zuführen. Eben das macht
den Zauber dieser Tage und Wochen aus.
Zauber? Seien wir
realistisch: Nach dem vorzeitigen Ausscheiden der Deutschen 1958 in Schweden
herrschte zwar Katzenjammer im Land, aber die Episode hatte keinerlei Bedeutung
fürs weitere Schicksal der Nation. Der Wirtschaftswunder-Motor war gerade
angesprungen, drehte sich unbeeindruckt von den Ereignissen in Schweden mit
immer mehr Kraft und schuf im Lauf der Jahre einen stetig wachsenden Wohlstand.
Ums Jahr 1968 herum hatte der Motor so viel Wohlstand produziert, dass wir,
die Nachkriegs-Geborenen, ihn für selbstverständlich hielten, seiner
überdrüssig wurden, und 1968 eine Revolution anzettelten - die
mit dem Weltmeistertitel für die deutsche Nationalmannschaft 1974 gekrönt
wurde. Die junge Bundesrepublik befand sich im Zenit ihrer Geschichte.
Nur ein kleines Arbeitslosenproblem
hatten wir. Aber, so hatten die Politiker gelernt, mit Hilfe von Keynes lässt
sich das schon lösen. Der Staat nimmt kurzfristig einen größeren
Kredit auf, pumpt das Geld in die Wirtschaft, und der Konjunkturmotor wird
wieder anspringen und neue Jobs schaffen. Hat auch funktioniert, aber nur
kurzfristig. Die Wachstumsschwächen kamen in immer rascherer Folge,
die Kreditaufnahmen folgten auf dem Fuße, aber die Arbeitslosigkeit
verschwand nicht, stattdessen Inflation, Stagnation, Stagflation. Von nun
an stiegen die Schulden und die Arbeitslosigkeit jedes Jahr ein bisschen,
egal wer regierte.
Dann kam 1990 die
deutsche Einheit über uns. Der Eiserne Vorhang fiel, ganz Osteuropa
befreite sich vom Kommunismus. Die Deutschen wurden wieder Weltmeister -
und blieben doch unbeliebt. In England, Frankreich, Italien fürchtete
man sich vor der deutschen Dampfwalze und einer neuen deutschen Hegemonie.
Aber hier, in Deutschland,
hieß es: Das ist die Wende. Die Friedensdividende, ein sich selbst
nährender Aufschwung in Ost-deutschland, eingebettet in einen allge-meinen
Aufschwung ganz Osteuropas, hervorgerufen durch die Selbstheilungs-kräfte
des Marktes, dazu das gerade erfundene Internet und die „New Economy“.
Vier
Weltmeisterschaften später: Arbeitslosigkeit wie nie, Schulden wie nie,
Städte und Gemeinden vor dem finanziellen Ruin, eine Steuererhöhung
jagt die nächste, kaum Geld für Bildung und Forschung, wachsender
Wohlstand oben, sinkender Lebensstandard in der Mitte, Verwahrlosung unten.
Wir versuchen uns an den Gedanken zu gewöhnen, künftig immer mehr
arbeiten zu müssen für immer weniger Geld und weniger Sicherheit,
falls man uns überhaupt noch arbeiten lässt. Der Glaube an die
Machbarkeit der Dinge ist verflogen.
Die Regel, nach der
in der alten Bundesrepublik gespielt wurde. hat sich geändert. Im Land
der Weltmeister von 1974 lautete sie: Vom technisch-wirtschaftlichen Fortschritt
sollen alle profitieren, die Unternehmer durch höhere Gewinne, der Staat
durch höhere Steuern, und die Arbeitnehmer durch höhere Löhne,
mehr Freizeit und mehr soziale Sicherheit. Kapital und Arbeit, der Einzelne und die Gesellschaft
waren miteinander verbunden durch ein Wertesystem, das sich soziale Marktwirtschaft
und demokratischer Rechtsstaat nannte und in eine „westliche Wertegemeinschaft‘
eingebettet war.
Die Gewinne der Unternehmen
waren nicht besonders hoch damals, aber alle fuhren gut damit, auch die Unternehmer,
weil das Wachstum stetig, die Zukunft planbar, das Leben in den Familien
geordnet war und darum kaum Gemeinkosten entstanden für die Behebung
der Schäden durch Arbeitslosigkeit, Wettbewerbsstress, Kriminalität,
Alkoholismus und Verwahrlosung in den Familien.
Es war ein Kapitalismus
mit menschlichem Antlitz, den die Ostdeutschen und Osteuropäer leider
nie kennen gelernt haben; als sie 1990 zu uns kamen, wurde dieses System
von Hans-Olaf Henkel und seinen tausend Vor- und Nachbetern höchst erfolgreich
als „bundesdeutsche Konsensscheiße“ verhöhnt und abgeschafft.
Damals kündigte die Kapitalseite der Gesellschaft die Solidarität.
Plötzlich galt: Wer die Musik bezahlt, bestimmt, was gespielt wird.
Und es wurde bestimmt: Vom technisch-wirtschaftlichen Fortschritt soll künftig
nur noch der private Investor profitieren. Und auf der ganzen Welt gilt nur
noch eine Spielregel: die des Marktes.
Seitdem wird das, was früher einmal Heimat
genannt wurde, überall auf der der Welt zum Industriestandort planiert,
wo es den Standortkommandanten egal sein kann, wer unter ihnen Bundeskanzler,
Präsident, Premierminister oder EU-Kommissar ist. Die Allianz-Vorstände,
Herren über ein Imperium, das sich in der Bilanzsumme von einer Billion
Euro ausdrückt, viermal so hoch wie der Bundeshaushalt, Herren über
einen Grundbesitz, zu dem die teuersten Straßen von München gehören,
belohnt mit Jahreseinkommen, die dem Lebenseinkommen derer entsprechen, die
sie feuern - sie mögen ale sich als Deutsche fühlen, sie mögen
ihren ausländischen Gästen stolz die Schönheit te der bayerischen
Berge, Seen und Schlösser zeigen, aber wenn's zum Schwur kommt und die Entlassung von
7500 Mitarbeitern ist solch ein Schwur, darf die Zufälligkeit ihrer
Staatsangehörigkeit nicht die ausschlaggebende Rolle spielen, dann haben
sie das Gesetz zu exekutieren, unter dem sie stehen, und es erweist sich,
woran sie in Wahrheit gebunden sind.
Die Vorstände
der Allianz und ihresgleichen sagen: Was sie tun, müssen sie tun, es
sei nicht nur zum Besten ihrer Aktionäre, sondern auch zum Besten ihrer
Mitarbei-ter und zum Besten des Landes, denn wenn sie eine geringere
Rendite erzielen als vergleichbare Unternehmen, verschwindet ihr Unternehmen
vom Markt, und es werden alle Mitarbeiter arbeitslos. Sie handeln also verantwortlich,
wenn sie einen Teil der Belegschaft opfern, um den anderen Teil zu retten.
Hier sind wir an
dem Punkt, an dem die Diener der unaufhörlich steigenden Rendite blind
sind, nicht sehen wollen, dass wir auch anders könnten, wenn wir nur
wollten, und nicht sehen wollen, was sie anrichten. Sie halten das Gesetz
des Marktes für ein Naturgesetz, gegen das kein Widerspruch möglich
ist. Wer dagegen aufbegehrt, erscheint ihnen wie ein trotziges Kind, das
mit dem Fuß auf stampft, weil es Ebbe und Flut nicht verhindern kann.
Wer meint, das Gesetz dieses Molochs missachten zu können, wird bestraft
mit Existenzvernichtung.
Dieses Gesetz kennt
kein gemeinsames Drittes, weiß nichts vom Allgemeinwohl, der Sozialpflichtigkeit
des Eigentums und dem Vorrang der Arbeit vor dem Kapital. Das Schicksal von
7500 Mitarbeitern samt ihrer Familien darf die Lakaien des Kapitals so wenig
tangieren wie das Schicksal der Stadt, der Region und des Landes, in dem
ihr Unternehmen sich am globalen Rattenrennen um die höchste Rendite
für die Reichen dieser Welt beteiligt. Den willigen Vollstreckern dieses Gesetzes zur
globalen Gleichschaltung erscheinen die im Grundgesetz verankerten Werte
nicht als schwer erkämpfte kulturelle Errungenschaften, sondern als
Wettbewerbshindernisse, die dem Wachstum der Renditen im Wege stehen und
darum abgeschafft gehören. Die Exekution dieses Gesetzes produziert,
wie es Peter Glotz einmal formuliert hat, eine „umstürzlerische Wirklichkeit“
die marschiert, „bis alles in Scherben fällt“. Patriotismus unter solchen
Voraussetzungen ist nichts weiter als Opium fürs Volk, und die das Gift
verabreichen, müssen gottverdammte Zyniker sein.
Ich hatte als junger
Mann kein Problem, Wehrdienst zu leisten, obwohl es damals, in den siebziger
Jahren, Mode war, den Wehrdienst zu verweigern. Ich ging sogar freiwillig
zur Bundeswehr, denn dieses Land war mein Land und darum wert, mit der Waffe
in der Hand verteidigt zu werden. Heute
gehört dieses Land anderen. Es ist nicht mehr mein Land. Meinen Kindern
wird es nie gehören, und wenn mich mein Sohn in ein paar Jahren
fragt, ob er zur Bundeswehrgehen soll, werde ich ihm abraten, denn was da
angeblich am Hindukusch verteidigt wird ist nicht mehr unsere Freiheit, die
Heimat und die westliche Wertegemeinschaft, sondern eine anglo-amerikanische
Wertpapiergesellschaft, die Weltherrschaft der Krämerseele.
Macht lieber eine
intelligente, gewaltfreie, lustvolle Revolution, werde ich meinen Kindern
sagen, erobert das Land zurück, das uns genommen wurde, denn mit Reformen
ist das nicht mehr zu schaffen. Nehmt den Milliardären dieser Welt die
Pfeife ab, nach der wir alle tanzen müssen, betätigt euch als Aktionskünstler,
mauert die Eingänge der Frankfurter Börse zu. Wenn Banken und Versicherungen
ihre Mitarbeiter rauswerfen, kündigt eure Verträge bei diesen Unternehmen
und gründet eure eigenen Banken und Versicherungen. Wenn Unternehmen
euch als Praktikanten auszubeuten versuchen, streikt. Prangert die Ausbeuter
öffentlich an. Verweigert Zweijahresverträge, Feiert internationale
Partys in den Bankenvierteln von London, Paris und Zürich. Bekämpft
die Geiz-ist-geil-Mentalität. Boykottiert alle Produkte, die unter ausbeute-rischen
Bedingungen produziert worden sind. Kauft nicht bei Unternehmen, denen zwölf
Prozent Rendite nicht genug sind. Setzt diese Unternehmen und deren Produkte
auf den Index und veröffentlicht ihn im Internet.
Ich werde noch mehr
sagen! Schaltet das Trashfernsehen ab, besetzt die Trashmedien, errichtet
Bild- und Glotze-freie Zonen, baut euch übers Internet eure eigene Gegenöffentlichkeit
auf. Verlangt von den Reichen dieser Welt die Herausgabe ihrer Steuererklärungen
und veröffentlicht im Internet die Tabellen, die zeigen, wie wenig die
Starken noch zu den Lasten des Gemeinwesens beitragen. Tretet massenhaft
in die Kirchen, Parteien und Gewerkschaften ein, feuert deren Funktionäre
und organisiert den weltweiten kollektiven Widerstand gegen die Tyrannei
der Krämerseele. Verweigert den Dienst als Soldat im Krieg um Marktanteile.
Verweigert weitere Menschenopfer für den Moloch Markt. Macht mit jeder
eurer Aktionen deutlich, dass ihr die totale Herrschaft dieses Molochs nicht
mehr akzeptiert. Zeigt seinen Dienern die rote Karte. Wir Alten, die wir
aus ‘68 gelernt haben, werden euch dabei helfen. Lasst uns die alten Spielregeln
wieder einführen, europaweit, und das Jahr 2008 wäre ein günstiger
Zeitpunkt, dieses Unternehmen zu starten. Dann ist nicht nur Europameisterschaft,
sondern es ist auch vierzig Jahre her, dass wir die 68er Revolution gemacht
haben, alle vierzig Jahre wendet sich die Zeit, meine Tochter wird 18, und
sie und ihre ganze Generation in Europa kämpfen dann hoffentlich um
mehr als nur um einen goldenen Pokal.
So klar wurde die
Realität in der bundesrepublikanischen Presse noch selten beschrieben.
Nur eine nähere Definition der "Krämerseele", an die "sie in Wahrheit
gebunden sind", des "Gesetzgebers", des "anderen", steht aus verständlichen
Gründen noch aus.