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Die Einheitsfront der Medien
Ungewöhnliche Selbstkritik in der Neuen Züricher Zeitung (NZZ)

31.03.2023

Deutlich kritisiert der Chefredakteur der NZZ in einem Kommentar vom 31.3.23 die Einheitsfront der deutschen Medien. Er bezieht sich dabei auf die Corona-Pandemie und die Flüchtlingskrise. In Leserkommentaren wird wiederholt darauf hingewiesen, dass man diese Erkenntnisse auch auf die Klimakrise oder den Ukrainekrieg übertragen könnte.

Hier der Wortlaut:

Jede Krise bringt Gewinner und Verlierer hervor. Karl Lauterbach gehörte in der Pandemie zu den Gewinnern. Corona trug ihn ins Gesundheitsministerium, obwohl Lauterbach – eine merkwürdige Mischung aus Daniel Düsentrieb, Nostradamus und Nervensäge – zuvor als ungeeignet für ein Ministeramt gegolten hatte.

Unterdessen hat Lauterbach seine Glaubwürdigkeit ruiniert. Seine Äusserungen in Talkshows und den sozialen Netzwerken fliegen ihm um die Ohren. Er sprach von einer «nebenwirkungsfreien Impfung». Er trommelte für Schulschliessungen, denn «Schulen sind Cluster, treiben Pandemie, Studienlage klar». Alles Unsinn, verbrämt als Wissenschaft. Der Minister ist kein bisschen besser als die sogenannten Corona-Leugner, die mit derselben Inbrunst unwissenschaftlichen Hokuspokus als Fakten darstellten.

Lauterbach räumt unterdessen ein, dass es «schwere Impfschäden» gibt. Die Schulschliessungen bezeichnet er als «Riesenfehler». Selten hat sich ein Minister derart schnell selbst demontiert, nur Christine Lambrecht gelang das noch gründlicher.

Die grössten Verlierer der Pandemie aber sind die deutschen Medien. Im Vergleich zu ihnen war Lauterbach ein zurückhaltender Mahner. So behauptete der «Spiegel», dass «nachweislich viele Tote auf das Konto von Pflegekräften gehen, die sich aus Bockigkeit nicht impfen lassen». Für die steile These gab es nie den Hauch eines Belegs, aber Hauptsache, man hatte Ungeimpfte als Corona-Totschläger denunziert.

Die Kritiker einer repressiven Seuchenpolitik wurden abgekanzelt

Wer nicht auf der Linie des Magazins lag, wurde unbarmherzig niedergemacht: «Einen grösseren Schaden als Corona-Leugner haben im vergangenen Jahr wohl Experten angerichtet, die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Massnahmen argumentiert haben, zum Beispiel Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck.»

Der Virologe Streeck hatte den Fehler begangen, den Physikern, Informatikern und allen anderen Nichtmedizinern zu widersprechen, die mit mathematischen Modellen vor gigantischen Fallzahlen warnten. In ihrem Alarmismus gingen Modellierer sogar so weit, eine Zero-Covid-Strategie zu fordern – die totalitäre Phantasie einer totalen Stilllegung der Gesellschaft. Auch der deutsche Corona-Papst Christian Drosten äusserte Sympathie für die monströse Idee: «Es wäre absolut erstrebenswert, jetzt auf die Null zumindest zu zielen.»

Ausgerechnet der «Spiegel», die laute Tröte einer repressiven Seuchenpolitik, schlägt inzwischen andere Töne an. Unter dem Titel «Wir Coronaversager» rechnet Alexander Neubacher mit dem Überbietungswettbewerb in der Pandemie ab, immer strengere Massnahmen zu fordern. Er kritisiert sogar Drosten, den der «Spiegel» wie einen Heiligen verehrte. Neubachers Fazit: «Und wir Medien, auch wir beim ‹Spiegel›, die wir uns gern als vierte Gewalt betrachten? Ich fürchte, der Diktator in uns war ziemlich stark.»

Man muss dem «Spiegel» hoch anrechnen, dass er den Mut zur Selbstkritik fand. Damit unterscheidet er sich wohltuend von den meisten Medien, die den Pandemie-Diktator in sich nie exorziert haben. Sie bettelten damals förmlich um strenge Massnahmen und kanzelten alle ab, die Zweifel am harten Kurs von Bund und Ländern äusserten. Das bekam vor allem der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet zu spüren, der sich dem Panikmodus von Politik, Medien und den meisten Experten widersetzte.

So sagte Laschet einen harmlosen Satz und erntete einen Sturm der Empörung. «Wenn Virologen alle paar Tage ihre Meinung ändern, müssen wir in der Politik dagegenhalten», erklärte er in einer Talkshow. Mit seinen Aussagen habe sich der Ministerpräsident als Kanzlerkandidat unmöglich gemacht, befanden daraufhin die ARD-«Tagesschau» und der Berliner «Tagesspiegel», die jede Form der Kritik an der Bundesregierung und ihren wissenschaftlichen Einflüsterern für eine milde Form des Hochverrats hielten.

Abweichende Meinungen hatten während der Pandemie in den Medien Seltenheitswert. Die Einheitsfront reichte von den öffentlichrechtlichen Sendern bis zu den privaten Verlagshäusern. Dass Springer mit seinen Blättern «Welt» und «Bild» ausscherte, war selbst im liberalkonservativen Spektrum eine absolute Ausnahme.

Wer glaubt, die Wahrheit gepachtet zu haben, gilt schnell als Lügner

Wirklich neu war die Einheitsfront für Medienkonsumenten allerdings nicht. Bereits in der Flüchtlingskrise 2015 herrschte dasselbe Bild.

Die Unterstützung der von Angela Merkel dekretierten «Willkommenskultur» war erste Journalistenpflicht. Wer angesichts der endlosen Flüchtlingstrecks Zweifel äusserte, galt als «rechts» oder gleich als «rechtsradikal».

Nichts nagt an der Glaubwürdigkeit der Medien mehr als solcher Einheitsbrei. Das Leben ist kompliziert. Wenn die Bürger die Komplexität nicht abgebildet sehen, fühlen sie sich belogen – auch wenn sie nicht «Lügenpresse» skandieren. Eine Branche, die den Eindruck erweckt, sie sei im Besitz der Wahrheit, zerstört das Vertrauen, auf das sie angewiesen ist. Hinzu gesellt sich Pharisäertum. Die Medien prangern inzwischen Lauterbachs Alarmismus an, obwohl sie sich keinen Deut anders verhalten haben.

Eine einfache Erklärung für den Konformismus der deutschen Medienlandschaft existiert nicht, sieht man von Verschwörungstheorien ab.

Anmerkung: Also liegen die vielleicht gar nicht so falsch?

In den fünfziger bis neunziger Jahren verstanden sich Journalisten als Opposition und Kontrollinstanz gegenüber einem konservativen Establishment. Eine Mehrheit der Journalisten war schon damals links, doch gab es genug liberale und konservative Stimmen, selbst in den staatlich alimentierten Sendeanstalten.

Heute haben abweichende Positionen Seltenheitswert. Zugleich verstehen sich gerade jüngere Journalisten nicht als Kontrollinstanz, sondern als Betriebskampfgruppe für eine bessere Welt, bevorzugt rund um die Themen Identitätspolitik und Klima. Am konsequentesten ist dabei der «Stern». Im Jahr 2020 gestaltete er eine Ausgabe in enger Zusammenarbeit mit «Fridays for Future». Man ist nicht mehr Kritiker, sondern Megafon.

Auch die Eliten haben sich verändert. Sie sind nicht mehr konservativ. Selbst CDU und CSU, in der Adenauer-Ära noch der Hauptgegner, geben sich divers und progressiv. In der Migrationspolitik schuf Merkel Fakten, wie sich das die Grünen nie getraut hätten.

Wer will da noch das Establishment kritisieren? Seit sich die Journalisten selbst als Teil der Elite sehen, gilt schon der Begriff «Elite» als populistisch. Man kann das als den langen und erfolgreichen Marsch der Achtundsechziger durch die Institutionen bezeichnen oder neutral als gesellschaftlichen Wertewandel.

Der Wertewandel lässt sich in allen Industriegesellschaften beobachten, und doch ist der journalistische Herdentrieb in Deutschland besonders evident. Hier kommt wieder einmal die deutsche Geschichte und damit der nationalsozialistische Zivilisationsbruch ins Spiel.

Überall in Westeuropa stellen rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien eine unbequeme, bisweilen abstossende Normalität dar. Nur in Deutschland sind sie historisch bedingt ein Tabu. Der Aufstieg der AfD fällt mit der Flüchtlingskrise und der Pandemie zusammen, und die Partei nutzte beides für ihre Mobilisierung.

Redaktionen machen sich zu Komplizen der Regierung

Zeitweise scherte die AfD als Einzige aus dem lagerübergreifenden Konsens aus. Wer die Flüchtlingspolitik oder die repressive Seuchenpolitik ablehnte, war in den Augen der Medien «rechts» oder mindestens «umstritten». Das setzte einen Abwehrreflex in Gang.

Wer publizistisch aus der Herde ausscherte, wird als «AfD-nah» oder als Wegbereiter eines neuen Nationalismus diffamiert. Auf die Idee, dass man eine eigene Meinung haben kann und trotzdem kein Populist ist, kommen die Wächter der manchmal ziemlich illiberalen liberalen Demokratie nicht.

Das verengt den Raum für den Diskurs bis heute. So kam es, dass Impfgegner zu Volksschädlingen erklärt wurden. Nur von dem historisch kontaminierten Begriff schreckte man noch zurück. In der Sache herrschte jedoch ein atavistischer Instinkt der Ausgrenzung.

Die schreibende und sendende Zunft will das Volk erziehen. Das ist die Schwundform des volkspädagogischen Überschwangs in der Aufklärung. In jedem Journalisten steckt ein Diderot, und in Krisen manifestiert sich das besonders. Ungehemmt konnte man die Bürger belehren, wie sie denken und handeln sollen. Eine unkontrollierte Einwanderung und drakonische Freiheitsbeschränkungen wurden als alternativlos hingestellt.

Die Flüchtlingskrise sah die Mehrheit der Deutschen bald kritischer. Viele Journalisten beschimpften das Volk daraufhin als rechtsradikal und populistisch. Davon hat sich die Wahrnehmung der Medien nicht erholt. Der Graben zwischen Medien und vielen Bürgern ist tief. Das bemerken auch die Journalisten, doch sie suchen die Schuld dafür allein beim Volk.

In der Pandemie lehnten nur wenige Deutsche den als alternativlos dargestellten Kurs ab. Der Mechanismus der Ausgrenzung blieb jedoch derselbe: «Schwurbler» und «Leugner» waren noch die freundlicheren medialen Prädikate. Als sich in Ostdeutschland die Corona-Demonstrationen häuften, nahm die Berichterstattung bisweilen hysterische Züge an.

In beiden Krisen haben sich die Redaktionen zu Komplizen der Regierungen gemacht. Von einer vierten Gewalt kann keine Rede mehr sein. Schlimmer noch ist, dass sich die Journalisten selbst an die Kette legten mit Begriffen wie «Grenzen des Sagbaren». Diese wurden zusehends enger gezogen. Dabei sollte für einen Journalisten im Rahmen der Gesetze nichts «unsagbar» sein. Sonst schafft sich der Journalismus ab.