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Das Globalesisch hat enge Grenzen
Englischsprachige Studiengänge aus der Sicht der kognitiven Neurowissenschaft
FAZ v. 3.11.2016
Von Frank Rösler
An deutsche Universitäten werden zunehmend, besonders im Masterstudium, Studiengänge in englischer Sprache angeboten. An Seminaren haben dann 95 Prozent der Teilnehmer als Muttersprache
Deutsch, und 5 Prozent sprechen eine andere Muttersprache als Englisch. Der Dozent war einige Zeit im englischsprachigen Ausland, beherrscht das Englische aber auch nicht wie seine Muttersprache.
Man muss fragen, ob eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung auf diesem Hintergrund überhaupt möglich ist, denn das Verstehen und der Austausch erfordern wissenschaftliche Argumente, dass sowohl der Dozent als auch die Studierenden Texte in ihrer vollen Bedeutung erfassen, referieren und schreiben können. Englisch parlieren und schreiben klappt in der Regel ganz gut, wenn man einige Zeit in einem englischsprachigen Land gelebt hat. Aber man sollte sich nicht täuschen, auch eine gute Beherrschung des Englischen verhindert nicht, dass sich jeder von uns in einer erst spät erworbenen Zweitsprache immer etwas begrenzter darstellen muss als in der von frühester Kindheit an gelernten Erstsprache. Man schätzt den Verlust je nach Fertigkeit auf 10 bis 20 IQ-Punkte. Menschen, die mehrere Jahre in einem englischsprachigen Umfeld gelebt und gearbeitet haben und die sich in dieser Zweitsprache ganz sicher fühlen, werden vehement mit einem „Das glaube ich nicht“ protestieren.
Allerdings sollte man sich nicht allzu sehr auf das „sichere“ Gefühl verlassen, denn häufig täuscht es uns. Linguistik, Psychologie und Neurobiologie liefern ein sehr differenziertes Bild darüber, wie sich zwei- und mehrsprachig aufgewachsene Menschen von solchen unterscheiden, die nur ihre Muttersprache gelernt haben und nur diese im Beruf und im Alltag verwenden. Es sind viele Variablen, welche die Leistung in der Primär- und der Sekundärsprache beeinflussen. Unterschiede betreffen die Grammatik, den Wortschatz, die Steuerung der Aufmerksamkeit und schließlich biologische Korrelate der Sprachverarbeitung. Bei bilingual aufgewachsenen Menschen beobachtet man im Vergleich zu Einsprachigen einige, vor allem die Sprachbeherrschung betreffende Nachteile, andererseits
aber auch Leistungsvorteile in kognitiven Funktionen, die gar nicht die Sprachfertigkeit allein betreffen.
Studien zur Bilingualität sind auch instruktiv, wenn es um den späteren Erwerb einer Fremdsprache geht. Denn wenn man bereits bei Menschen Defizite beobachtet, die seit ihrer frühesten Kindheit eine zweite Sprache sprechen, dann ist es wahrscheinlich, dass solche Defizite auch und manchmal sogar noch stärker bei Menschen auftreten, die erst sehr viel später – in Schule und Beruf – eine zweite
Sprache erlernen mussten.
Auch 20 Jahre Sprachtraining in einer nicht muttersprachlichen Umwelt führen keineswegs dazu, dass man eine zweite Sprache
perfekt beherrscht. Das gilt vor allem dann, wenn der Erwerb dieser zweiten Sprache erst nach dem 5. oder 6. Lebensjahr begann. Bis zu diesem Zeitpunkt entwickeln sich im Gehirn spezifische Filter und Programme für die seit der Geburt gelernten(n) Sprache(n). Am Ende dieser kritischen Phase wird die Lernfähigkeit der betreffenden neuronalen Strukturen abgeschaltet. Das System ist dann optimal für die Muttersprache eingestellt. Nach Abschluss der kritischen Phase kann zwar immer noch eine neue Sprache erworben werden, aber sie wird nie den gleichen Grad an Automatisierung erreichen wie die Erstsprache, und – wie man mit bildgebenden Verfahren erkennen kann – es werden im Gehirn dafür andere Strukturen genutzt als bei der Erstsprache.
Man hat beispielsweise Kinder chinesischer Einwanderer in Kalifornien im Erwachsenenalter in ihren Sprachfertigkeiten untersucht und mit Muttersprachlern verglichen. Die Probanden erlebten sich als vollkommen flüssig im Amerikanischen, sie schrieben und sprachen es fließend, und sie hatten einen
akademischen Abschluss. Dennoch, alle, die erst nach ihrem 4. oder 5. Lebensjahr in die amerikanische Sprachwelt eingetaucht waren, zeigten beim Verstehen komplizierter grammatischer Strukturen im
Vergleich zu den muttersprachlichen Vergleichspersonen Defizite. Die Defizite traten besonders bei sogenannten nicht-lokalen Abhängigkeiten auf, also dann, wenn Satzteile miteinander verbunden
werden müssen, die beispielsweise durch einen Relativsatz getrennt sind („die Katze, die der Hund anbellte, saß auf dem Dach“).
Während Defizite in der Beherrschung der Grammatik und der Phonetik oft unmittelbar auffallen, werden Unterschiede im Wortschatz erst mit geeigneten Untersuchungstechniken deutlich. Lässt man Probanden Objekte in ihrer Erst- oder Zweitsprache benennen, so antworten bilinguale Probanden etwas langsamer als monolinguale. Dieser Unterschied ist bei Wörtern mit geringer Häufigkeit in der Sprache ( „Hummer“ kommt in Texten sehr viel seltener vor als „Tisch“) besonders ausgeprägt. Auch der Umfang des Wortschatzes ist bei bilingualen Probanden meistens etwas geringer als bei monolingualen. 

Dem Gewinn, der sich daraus ergibt, dass man eine zweite Sprache beherrscht, steht also ein gewisser Verlust der geringeren Vernetzung des semantischen Lexikons innerhalb einer Sprache gegenüber. Man kann zwar einen Text problemlos in der Zweitsprache lesen und verstehen, dabei wird aber nicht die Gesamtheit aller konnotativen Bedeutungen aktiviert, die einem vergleichbar intelligenten und gebildeten Muttersprachler verfügbar sind. Ein guter Test, der einem das vor Augen führen kann, ist das Lösen eines anspruchsvollen Kreuzworträtsels in der Erst- und in der Zweitsprache.
Wenn man ständig zwischen zwei Sprachen wechseln muss, weil man privat eine andere Sprache spricht als im Beruf oder in der Schule, dann ergeben sich daraus besondere Anforderungen. Man muss nicht nur ein passendes Wort im Gedächtnis finden und aussprechen, zugleich muss man auch das Artikulationsmuster des Wortes hemmen, das einem in der gerade nicht relevanten Sprache vielleicht
auch in den Sinn kommt. Die Aufmerksamkeit muss also stärker als bei monolingualen Sprechern auf den jeweils relevanten Bereich fokussiert werden. Untersuchungen zeigen, dass ein kontinuierliches
bilinguales Training die Aufmerksamkeitskontrolle und das „Aushandeln“ von Konflikten zwischen gerade relevanten und nicht relevanten Gedächtnis- und Wahrnehmungsinhalten verbessert. Dabei beobachtet man diese Leistungssteigerungen nicht nur in sprachrelevanten Bereichen – also beim Wechsel von der einen in eine andere Sprache – sondern generell auch bei nicht sprachlichen
Aufgaben. Erstaunlich ist zudem, dass diese Flexibilität bilingualer Menschen besonders im Alter an Bedeutung zuzunehmen scheint. Die kanadische Psychologin Bialystok meint, dass die durch die
Zweisprachigkeit erworbene größere Flexibilität bei der Kontrolle der Aufmerksamkeit einen Schutz gegenüber dem physiologisch bedingten Leistungsverlust im Alter bedingt.
Unterschiede zwischen mono- und bilingualen Menschen kann man nicht nur im Verhalten beobachten. Messungen mit der funktionellen Kernspintomographie oder dem Elektroenzephalogramm zeigen, was
die Gehirne von Ein- und Zweisprachlern beim Verstehen und bei der Produktion von Sprache tun, welche Areale dabei in welchem Ausmaß aktiviert werden. Zum einen beobachtet man bei Bilingualen, wie bei anderen Probandengruppen mit einer speziellen Erfahrungsgeschichte auch, dass sich das Gehirn den entsprechenden Lernbedingungen anpasst und im Vergleich zu den jeweiligen „normalen“ Kontrollen „umbaut“ (bei von Geburt an Blinden oder Gehörlosen). So werden bei Bilingualen die für sogenannte exekutive Kontrollfunktionen zuständigen Gebiete im präfrontalen Kortex während des Sprachverstehens stärker aktiviert als bei Monolingualen. Auffallend ist auch, dass bestimmte Hirnareale eines bilingualen Sprechers beim Verstehen sprachlicher Aussagen oder beim Zugriff auf Wortbedeutungen häufig stärker aktiviert sind als die eines monolingualen Sprechers. Das Gehirn wird also „stärker gefordert“.
Die Beherrschung einer zweiten, dritten oder gar vierten Sprache  neben der Muttersprache ist ein Gewinn, und in unserer Zeit ist die Beherrschung des Englischen eine Notwendigkeit. Die psychologischen Effekte einer Zwei- oder Mehrsprachigkeit sind allerdings, wie die wenigen zitierten Befunde andeuten, tiefgreifender und komplizierter, als man auf den ersten Blick vielleicht vermutet.

Natürlich gibt es dabei große individuelle Unterschiede. Eine der wenigen genialen Ausnahmen war Joseph Conrad. Er erwarb erst im Alter von zwanzig Jahren seine Drittsprache Englisch (nach der
Muttersprache Polnisch und der Zweitsprache Französisch) und hat dennoch großartige englischsprachige Literatur hervorgebracht. Allerdings fiel ihm das nicht leicht, denn er meinte, „wie ein
Minenarbeiter in einem Kohlebergwerk arbeiten“ zu müssen, um „englische Sätze aus schwarzer Nacht ans Tageslicht zu fördern“. Zudem sollte man von solchen Giganten der Sprache auch nicht allzu
optimistisch auf den „normalen“ Doktoranden oder Wissenschaftler schließen. Im Durchschnitt ist die Sprachfertigkeit in einer später erworbenen Zweit- oder Drittsprache eingeschränkt. Ob wir also
immer alles bis ins letzte Detail verstehen, was man uns auf Globalesisch erzählt, und ob wir alles, was wir gerade denken, auch unserem Gegenüber auf Globalesisch restlos mitteilen können, das ist
nicht ganz so sicher.

Der Autor lehrt Allgemeine und Biologische Psychologie an der Universität Hamburg und ist Mitglied des Präsidiums der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
http://www.leopoldina.org/de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/press/2240/